Musiker: The Tiger Lillies
Label: Misery Guts Music
Genre: Alternative
Veranstaltungsdatum: 04.04.2019
Veranstaltungsort: Wilton' Music Hall »
Wie jedes Jahr mache ich mich im April auf den Weg in die britische Hauptstadt, um meiner Passion für kleine Figuren zu frönen. Gerne verbinde ich diese kurzen Trips mit ein wenig Kultur, besuche eine Ausstellung oder gehe auf ein Konzert.
In den unendlichen Weiten des Internet mache ich mich daher auf die Suche nach einem entsprechenden Rahmenprogramm. Und schon nach wenigen Klicks werde ich fündig: Die von mir hochgeschätzten The Tiger Lillies haben quasi ein „Heimspiel“ in der Stadt. Für fünf Nächte gastiert das Trio in Wilton’s Music Hall und führt dort die komplette One Penny Opera auf.
Dabei handelt es sich um die sehr spezielle Interpretation von Bertolt Brechts Dreigroschenoper, die wiederum auf The Beggar’s Opera von John Gay aus dem Jahr 1728 basiert.
Bis ich mit meinen Reisevorbereitungen soweit bin, sind die Vorstellungen am Freitag und Samstag natürlich bereits ausverkauft. Den Mittwoch habe ich dagegen bereits anderweitig verplant. So bleibt mir nur der Donnerstag, um mir das Spektakel anzuschauen. Ein Blick auf das Buchungsportal zeigt, das mir nur noch der letzte Platz in der letzten Reihe bleibt – was sich aber im Nachhinein als recht gute Wahl herausstellt.
Wilton’s Music Hall
Als ich mich auf den Weg zum Konzert mache, präsentiert sich London von seiner besten Seite: Es ist regnerisch, windig und ungemütlich. Die nächste U-Bahn-Station ist ein ganzes Stück von meinem Ziel entfernt und bis ich ins Foyer trete, bin ich durchgefroren und nass. Innen ist es jedoch kuschelig warm und recht gut gefüllt – doch kann ich mich an die Bar vorarbeiten. Während ich an meinem Getränk nippe, habe ich Zeit, mir meine Umgebung näher anzuschauen. Das Gebäude ist zweifellos sehr alt, ein wenig ramponiert, verfügt aber über einen ganz besonderen Charme. Wilton’s Music Hall ist eine der ältesten und größten Music Halls, die es noch in London gibt.
Geschichtsträchtige Location
Erbaut im späten 17. Jahrhundert und erstmals in den 1850ern für Aufführungen genutzt, hat das Gebäude (oder vielmehr der Gebäudekomplex) mehrfach Besitzer und Funktion gewechselt. So war es beispielsweise eine Suppenküche, ein Warenhaus oder ein Gemeindesaal. In den 1980ern rottete das Gebäude weitgehend verlassen vor sich hin. Jedoch diente es beispielsweise als Drehort für Frankie Goes To Hollywoods „Relax“-Video oder gelegentliche Veranstaltungen. Erst in den 1990ern begannen erste Restaurierungsarbeiten am Saal, die sich über fast zwei Jahrzehnte hinzogen. Regelmäßig für Konzert genutzt wird Wilton’s Music Hall erst wieder seit 2012. Wer sich für die Geschichte des Gebäudes interessiert, oder einen Blick auf die Veranstaltungen werfen will, bekommt auf der dazugehörigen Homepage alle Informationen.
Nach einem kleinen Rundgang durch die Räume und dem historischen Exkurs ist es schließlich soweit. Ganz stilecht geht eine der Angestellten durch die Räume und läutet mit einer großen Glocke den Beginn der Vorstellung ein. Als ich den Saal betrete, erwarten mich gleich zwei Überraschungen. Zum einen hatte ich mit einem viel größeren Raum gerechnet – allerdings kommt mir die kompakte Bauweise sehr entgegen. Aber auch die musikalische Untermalung ist für mich unerwartet. Aus den versteckten Boxen klingt mir „Marie“ der Comedian Harmonists entgegen – dem Rauschen nach zu urteilen von einer Schellackplatte.
Während das Gros der Sitze aus einfachen Klappstühlen besteht, sind die letzten beiden Reihen uralte Holzbänke, die zudem leicht erhöht stehen. Die Sitzfläche ist zwar etwas knapp bemessen, doch da ich am Ende der Bank sitze, habe ich glücklicherweise etwas mehr Platz. Und von einer der tragenden Säulen abgesehen ist der Blick auf die Bühne hervorragend.
One Penny Opera
Pünktlich verlöschen die Lichter im Saal und die Band tritt auf die Bühne, um die bekannte Geschichte von Macheath zu erzählen. Mack the Knife, wie er in Londoner Unterweltkreisen genannt wird, ist ein Mörder, Dieb und generell unangenehmer Zeitgenosse. In einer obszönen Zeremonie heiratet unser Held Polly, die Tochter des Bettlerkönigs Jonathan Jeremiah Peachum. Dieser ist von seinem Schwiegersohn nicht sonderlich begeistert und gegen die Verbindung. Daher nutzt er seinen Einfluss beim Londoner Polizeichef Tiger Brown, um eine Verhaftung zu arrangieren. Macheath wird geschnappt, nachdem ihn die Prostituierte Jenny verraten hat. Allerdings kann er aber mit der Unterstützung von Browns Tochter fliehen.
Kurz darauf gibt Jenny erneut einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort und wieder wird Mack festgenommen. Bei der Gerichtsverhandlung bittet er seine Freunde, Gegner und zahlreichen Ex-Geliebten um Vergebung. Während er auf die Vollstreckung des Todesurteils wartet, sinniert er über seine Karriere nach. In letzter Minute wird Macheath jedoch durch einen Erlass der Königin begnadigt. Doch nicht nur das: fortan residiert er im St. James Palace, versorgt den Prinzregenten mit Prostituierten und beseitigt für Queen Victoria unliebsame Zeitgenossen.
Einige der Stücke sind speziell für die Aufführung geschrieben
Die einzelnen Stücke werden durch kurze Dialoge zusammengehalten. Martyn Jacques übernimmt den Großteil des Gesangs und der Texte. Aber auch Bassist Adrian Stout als Bettlerkönig und Schlagzeuger Jonas Golland in der Rolle von Tiger Brown steuern ihren Teil bei. Einige der Stücke sind speziell für die Aufführung geschrieben. Allerdings greift die Band auch immer wieder auf die Klassiker von Kurt Weill zurück; die bekanntesten davon sicherlich „Mack the Knife“ und „Alabama“.
Nach dem offiziellen Ende der One Penny Opera bleibt die Band noch für eine kleine Zugabe auf der Bühne. Wie häufig bei Konzerten von The Tiger Lillies darf das Publikum seine Vorlieben äußern – die manchmal sogar berücksichtigt werden. An diesem Abend finden das blasphemische „Banging in the Nails“ und das ein klein wenig obszöne „Aunty Mabel“ Anklang beim Publikum. Danach ist jedoch Schluss mit dem Auftritt, doch wartet die Band im Foyer auf die Zuschauer. Hier schreiben die drei Musiker fleißig Autogramme und posieren für Bilder. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit Tonträger und Merchandise zu erwerben. Eine Live-Aufnahme des Auftrittes wird demnächst veröffentlicht – der Vertrieb erfolgt dann über die Homepage von The Tiger Lillies.
Wie war’s?
Das Schaffen der Band ist, man kann sagen, etwas speziell und sicherlich nicht für die breite Masse geeignet. Die One Penny Opera bildet da keine Ausnahme: die Texte sind obszön, blasphemisch, zynisch aber auch recht lustig – wenn man diesen besonderen Humor mag. Inhaltlich drehen sie sich in erster Linie um Sex, Gewalt, Perversionen, Alkohol und Drogen. Ebenso ungewöhnlich wie die Lyrics, ist der Einsatz der Instrumente. Während Bass, Piano und Schlagzeug in fast jeder Band zu finden sind, kommen jedoch ungewöhnliche Instrumente wie Akkordeon, Theremin, eine winzige Ukelele oder eine Singende Säge zum Einsatz. Auch habe ich, außer Jonas Golland, noch nie einen Schlagzeuger gesehen, der seine Becken mit dem Bogen spielt oder einen Luftballon als Instrument nutzt.
Ich habe die Band schon häufiger gesehen, allerdings war dieser Auftritt doch etwas ganz Besonderes. Alleine die Atmosphäre des Gebäudes war die Reise wert. Es ist schwer, in Worte zu fassen, aber die Mischung aus vergangener Größe, historischer Bedeutung und gemütlichem, familiärem Ambiente ist enorm spannend.
Auch die Möglichkeit, The Tiger Lillies in ihrer Heimatstadt zu sehen, konnte ich mir nicht entgehen lassen. Die Musiker machen ihren Job gewohnt professionell – vermitteln aber nicht den Eindruck, dass sie einfach nur ihr Programm herunterspielen. Kleine Wortgeplänkel zwischen dem Trio und dem Publikum sorgen für eine lockere Atmosphäre, die Bühnenpräsenz von Martyn Jacques ist enorm und die Abstimmung zwischen den Musikern passt haargenau. Auch von rein technischer Seite gibt es an dem Konzert nichts auszusetzen. Die Beleuchtung ist dezent, aber völlig ausreichend und durchaus stimmig. Der Sound ist, zumindest auf meinem Platz, hervorragend, klar und sauber – ohne dabei klinisch steril zu wirken. Ein rundum gelungenes Konzert, das den weiten Weg auf jeden Fall gelohnt hat – einzig die Dauer ist mit gut 80 Minuten doch ein wenig kurz ausgefallen.