
Kategorie: Belletristik
Autor: Christian von Aster, Luci van Org, Oswald Henke
Genre: Dystopie, Humor, Kunst, Urban Fantasy
Veranstaltungsdatum: 18.10.2024
Veranstaltungsort: Das Rind »
Luci van Org mit ihren zahlreichen Musikprojekten und Erzählungen, Christian von Aster mit seinen Büchern und Kurzgeschichten und Oswald Henke, vor allem durch seine Arbeit mit Goethes Erben, dürften den meisten unserer Leser zumindest vom Namen her bekannt sein. Alle drei habe ich im Laufe der Zeit bereits mehrfach auf Konzerten oder Lesungen gesehen.
Entsprechend neugierig war ich, als im letzten Jahr mit Ein Kessel Schwarzes ein gemeinsames Projekt angekündigt wurde. Der Themenschwerpunkt seinerzeit war „Leichenschmaus“ – doch leider versäumte ich, mir rechtzeitig ein Ticket zu organisieren. Als dann im Frühjahr 2024 das zweite Programm mit dem Thema „Familiengericht“ in den Vorverkauf kam, beeilte ich mich, eine Karte für einen der drei Auftritte zu bekommen. Glücklicherweise steht neben Bayreuth und Leipzig auch Rüsselsheim auf dem Tourplan. So muss ich mich nicht auf eine Reise durch die halbe Republik machen, sondern nur gut 40 km durch den freitäglichen Feierabendverkehr quälen.
Die Location
Das Rind ist ein gemütlicher, kleiner Club in Rüsselsheim, praktisch direkt am Main-Ufer gelegen. Durch das vielfältige Programm gibt es eigentlich immer einen Grund, dem Ort einen Besuch abzustatten. Der offene Bereich zwischen dem dazugehörigen Restaurant und der Veranstaltungs-Location ist durch zahlreiche Schirme gesichert – was beim einsetzenden Nieselregen durchaus angebracht ist. Gut eine Stunde vor Beginn haben sich hier schon die ersten Gäste versammelt und warten draußen, andere sind im Innern noch mit ihrem Abendessen beschäftigt.
Während ich mich mit Freunden unterhalte, wird die Schlange der Wartenden schnell größer und kurz nach 19 Uhr haben die Veranstalter ein Einsehen und lassen uns hinein. Normalerweise fasst Das Rind bei Konzerten exakt 262 Personen. Für Ein Kessel Schwarzes ist diese Anzahl deutlich reduziert. Im ganzen Raum sind kleine, runde Tische mit jeweils vier Stühlen verteilt, so dass das Publikum es sich gemütlich machen kann. Im hinteren Teil haben traditionell Mischpult und Merchandise-Stand ihren Standort – so auch an diesem Abend.
Bevor es losgeht, durchstöbere ich das ausliegende Angebot und finde tatsächlich noch Dinge, die meiner Sammlung fehlen. Nachdem ich an der Theke für eine kleine Stärkung gesorgt habe, begebe ich mich wieder zu meinem Platz, der sich praktischerweise am Bühnenrand befindet.
Ein Kessel Schwarzes
Schon vor dem eigentlichen Beginn des Auftritts kann man die drei Künstler im Raum herumwuseln sehen, bevor sie sich schließlich kurz vor 20 Uhr in den Backstage-Bereich zurückziehen. Das gibt mir Zeit, die Dekoration genauer zu betrachten: ein Tapeziertisch, abgedeckt mit einem schwarzen Tischtuch steht im Zentrum der Bühne. Darauf Kunststoff-Geschirr und ein kleiner Kessel – ebenfalls in Schwarz gehalten. Am rechten Rand stehen Stuhl, Mikrofon und akustische Gitarre, während links, etwas nach hinten versetzt ein Bistrotisch steht. Auch dieser ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt und wird von zwei Stundengläsern gekrönt.
In diese Szenerie treten dann auch recht pünktlich die drei Akteure um in einer kleinen Einleitung ihren Empfang im Das Rind zu loben. In der anschließenden Vorstellung werden die Rollen für den Verlauf des Abends definiert. Herr Henke ist der Miesepetrige, Herr von Aster übernimmt den Part des Humorvollen und Frau van Org ist die Anstrengende bzw. die Musikalische – nur damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Auch wird kurz auf das Programm, das „Familiengericht“, eingegangen. Entsprechend beschäftigt sich der erste Teil mit Recht und Gerechtigkeit, während im zweiten Part die Familie im Fokus steht.
Nach dieser kurzen Einleitung nehmen die drei Künstler am Tisch Platz, um die Geschichte vom Zappel-Philipp des Frankfurter Arztes und Autors Heinrich Hoffmann nachzustellen. Am Ende der wortgetreuen Umsetzung und nach einem (altersgerechten) Stunt, ist das Geschirr über die Bühne verteilt, Herr Henke liegt in die Tischdecke gehüllt am Boden und beiden anderen schauen fassungslos auf das Chaos.
Im Anschluss an diese eher lockere, humorvolle Sequenz stellen Frau van Org und Herr von Aster noch einige Fakten zum islamischen Scheidungsrecht und zum Schutz von Frauen vor, bevor sie die Bühne verlassen.
Herr Henke, mittlerweile alleine am „Tisch der Wahrheit“ (dem Bistrotisch), nimmt die Zuschauer mit auf einen historischen Exkurs zu den Aufgaben und Einnahmequellen eines mittelalterlichen Scharfrichters. Auf diesen folgt mit „Fleischschuld“ ein vorgetragener älterer Text von Goethes Erben über eine beklemmende Dystopie. Die gedrückte Stimmung wird auch durch den Wechsel zu Frau van Org nicht aufgehellt, die nach weiteren Fakten zu Gewalt gegen Frauen mit „Somnio“ ein akustisches Stück ihrer Band Lucina Soteira zum Besten gibt.
Nach einem erneuten Wechsel steht nun Christian von Aster auf der Bühne. Diesmal gibt es eine kurze Geschichtsstunde über den wahrscheinlich eifrigsten deutschen Henker Johann Reichhart. Die mittlerweile etwas gedrückte Stimmung wird schließlich durch zwei Kurzgeschichten über Narren, Henker, Hexenrichter und Kartoffeln aufgehellt. Zwischenzeitlich sind wieder alle drei auf der Bühne und erzählen teils sehr persönliche Anekdoten zu Gerechtigkeit, familiären Verhältnissen und jugendlichen Missetaten. Nach diesem längeren Teil folgt ein kurzer Faktenblock zu sexueller Gewalt. Dies bildet die Überleitung zur Lesung eines Kapitels aus Luci van Orgs (teil-)autobiografischen Buch Wir Fünf und ich und die Toten.
Um die Zuschauer nicht mit dieser doch etwas beklemmenden Stimmung in die Pause zu entlassen, folgt eine musikalische Darbietung, bei der alle drei beteiligt sind. Dabei handelt es sich um eine sehr gewöhnungsbedürftige, aber spaßige Cover-Version von „Der Kommissar“, die den ersten Teil des Abends abschließt.
Nach einer wirklich kurzen Pause betreten Frau van Org und Herr Henke wieder die Bühne. Dieser zweite Teil konzentriert sich auf den Familien-Aspekt des Programms. Als Einleitung tragen die beiden eine akustische Version von „Orangenschiffchen“ vor. Ein, trotz der Erklärung, skurriles Stück, zu dem Herr von Aster mit einem silbernen Tablett durch den Zuschauerraum geht und eben jene Obststücke an die anwesenden Mütter verteilt.
Daran schließt sich wieder eine kurze Runde Statistiken an – diesmal über Familien und Armutsgefährdung. Dies nutzt Christian von Aster als Überleitung zu einer Lesung aus seinem Kinderbuch „Der Nichtnutz“, in welcher der Autor einen kritischen Blick auf Konsumverhalten wirft. Obwohl es noch etwas früh dafür ist, folgt ein Gedicht über den „Weihnachts-Dreikampf“ – den normalen Wahnsinn bei einer durchschnittlichen Familien-Weihnachtsfeier.
An dieser Stelle übernimmt Frau van Org wieder die Bühne und liefert Zahlen zu Kindersterblichkeit, bevor sie ein weiteres, eher surreales Kapitel aus ihrem aktuellen Buch liest. In der Folge gewähren alle drei sehr persönliche Einblick in ihr Leben – teils lustig, teils beklemmend und teils skurril.
Für die Erziehungsberechtigten folgt ein Ratgeber von Oswald Henke. Allerdings ist es nicht empfehlenswert, diese Tipps in der Praxis anzuwenden. Als Ergänzung dazu ist es wieder Zeit für einige Fakten und Statistiken, diesmal zum Thema Körperstrafen.
Als Abschluss des Abends folgt ein weiteres Musikstück – wiederum eine Cover-Version. „Mein Name ist Mensch“, ursprünglich von Ton Steine Scherben, lässt viel Interpretationsspielraum und rundet das Programm sehr passend ab.
Damit endet der Auftritt und Das Rind leert sich recht schnell. Dennoch bleiben alle drei Künstler noch eine ganze zeitlang vor Ort, plaudern mit dem verbliebenen Publikum, geben Autogramme und beantworten Fragen. So dauert es tatsächlich doch etwas länger, bis ich mich schließlich wieder auf den Heimweg mache.
Wie war’s?
Wie eigentlich, angesichts der beteiligten Künstler, nicht anders zu erwarten, war Ein Kessel Schwarzes eine sehr ungewöhnliche Veranstaltung. Im einen Moment gab es herzhafte Lacher, und im nächsten erhält die Stimmung durch bedrückende Fakten oder eine tiefgehende persönliche Erfahrung einen herben Dämpfer. Die abwechslungsreiche Mischung aus Musik, Lesung und Plauderrunde war erstaunlich unterhaltsam und hat sehr gut funktioniert. Das die stellenweise doch beklemmenden Themen (und Statistiken) niemandem nachhaltig den Abend verdorben haben ist der große Verdienst der Akteure. Dazu trug auch die Chemie zwischen den dreien erheblich bei. Trotz unterschiedlichster Lebensläufe und familiärer Hintergründe, trotz kaum zu vergleichenden kreativen Output passt es einfach zusammen. Die lockere Stimmung auf der Bühne übertrug sich auch auf die Zuschauer und sorgte für gute Unterhaltung – selbst wenn mehr als einmal das Lachen im Halse stecken blieb.
Insgesamt ein sehr schöner, entspannter, lustiger, nachdenklicher und unterhaltsamer Abend in wirklich toller Atmosphäre.